Markus hargesheimer zählt zu den besten Deutschen im Kung Fu. Regelmäßig reist er nach Hongkong – und trifft einen 68- jährigen, der schnell ist wie ein Blitz
Markus Hargesheimer hat eine Puppe im Keller stehen. Nicht so eine, wie man sie in Puppenhäusern in Kinderzimmern findet oder in Schaufenstern. Sondern den chinesischen Muk Yan Jong, “den Hölzerner-Mann-Pfahl”, den Hargesheimer “Holzpuppe” nennt. An ihr trainiert er die Kampfkunst Wing Chun – einen Kung Fu- Stil. In ihm gehört der Landshuter in Deutschland seit Jahren zu den Besten.
Inzwischen blickt Hargesheimer, 35 auf 22 Jahre Erfahrung zurück. Er fing mit Karate an, wollte sich aber später weniger auf die sportlichen Aspekte fokussieren, sondern mehr auf die Selbstverteidigung. So widmete er sich dem Wing Chun, das er auch an seiner eigenen Schule in Landshut lehrt. “So ein Drehkick im Karate sieht sehr gut aus, ist draußen auf der Straße aber eher schwer anwendbar”, erklärt Hargesheimer. Ständig versuchte er, seine Wing Chun- Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Über einen Trainingskollegen aus Dachau und einem Meister aus Los Angeles gelang es Hargesheimer, zum Wing Chun Großmeister Ng Chun Hong Kontakt aufzunehmen, ehe er 2007 erstmals zu ihm nach Hongkong reiste. Hargesheimer erinnert sich an die ersten Gespräche mit seinem Dachauer Kollegen Ulrich Stauner: “Lass uns mal hinfliegen und schauen, wie die das so machen.” Damals beherrschte er den Stil schon “recht gut”, erinnert sich Hargesheimer, um gleichzeitig seine Augenbrauen verwundert zu heben. Er habe schnell gemerkt, dass die Kämpfer im fernen Asien um einiges weiter waren, “wie wenn man von der Bundesliga in die Champions League einsteigt”. Doch der Niederbayer stellte sich der Herausforderung und der harten Schule von Ng Chun Hong, der bereits 53 Jahre Wing Chun- Erfahrung vorweisen kann und laut Hargesheimer “aus der ersten Linie des Wing Chun- Stammbaums, ohne Umwege” gelernt hat. Die Anfänge des kantonesischen Kampfstils sind nicht belegt, sollen aber bis in das frühe neunzehnte Jahrhunder zurückreichen.
Hargesheimers Wertschätzung für seinen Großmeister ist zu erkennen, wenn er über dessen didaktische Fähigkeiten spricht: “Er ist ein wahnsinnig guter Lehrer, vermittelt sehr gut, und wenn unser Englisch nicht reicht, dann erklärt er es mit Händen und Füßen.” Hargesheimer reiste in diesem Sommer bereits zum vierten Mal nach Hongkong, und seinem 68- jährigen Großmeister gelingt es immer noch, ihn zu beeindrucken: “Ich bin nur etwa halb so alt wie er und nach all den Jahren passiert es mir nach wie vor, dass er sofort die Lücke findet, einen Nerv trifft und mein Arm runterfällt – alles im Vorbeigehen. Er ist mit 68 Jahren schnell wie ein Blitz. Ich habe schon viel erlebt, aber an ihn kommt keiner ran.” Genau bei diesem Mann, Ng Chun Hong, absolvierte Hargesheimer im August die 18. und letzte Prüfung, die es in seinem Kung Fu- Stil abzulegen gilt: die zum Wing Chun- Meister. Zweieinhalb Stunden nach seiner Landung in Hongkong trainierte Hargesheimer schon beim “Si Bak” (“Onkel”), wie er Ng Chun Hong nennen darf – und das dürfen nur wenige. 22 Stunden Anreisezeit steckten da im vorbelasteten Körper, und bei 37 Grad wurde bis zu fünfeinhalb Stunden täglich geübt. Hargesheimer arbeitete anfangs noch an seinem Defiziten, streng beobachtet vom “Onkel”, der sie aufdeckte.
An den letzten beiden Tagen in der Metropole an der chinesischen Südküste ging es zur “anstrengensten Prüfung” die der Landshuter in seiner Kampfkunst- Karriere je erlebt habe, unter anderem “mit knapp 150 Techniken in Folge”, die er an der Holzpuppe ableisten musste. “Es darf keine vertauscht werden, kein Winkel darf falsch sein, kein Fuß falsch stehen, kein Arm in die falsche Richtung zeigen, nicht mal ein Finger.” Hargesheimer blieb fehlerfrei, meisterte die Prüfung und wurde mit dem fünften Meistergrad ausgezeichnet. Ein Kunststück, das in Ng Chun Hongs Ausbilder- Geschichte einmalig sei: “In 30 Jahren, die er jetzt unterrichtet, ist das bei ihm noch keinem Europäer gelungen.”
Hargesheimer duldet keine “Hau-drauf-Schüler”, wenn er sie trainiert – das bringe den Stil in Verruf. “Bei uns wollen wir nicht wie zwei Autos aufeinander zu rasen und einen Frontalzusammenstoß herbeiführen. Wir versuchen, von der Seite das Auto von der Straße zu bringen.” Solche Lehrsätze und die Hongkong- Reisen, für die er bis zu 2000 Euro ausgibt, verraten, dass Hargesheimer seine Leidenschaft sehr ehrgeizig verfolgt. Einmal hat er die traditionelle Reise aber ausfallen lassen – 2011, als er Vater wurde. Sehr schnell, ein Jahr später, folgte nun die letzte Prüfung im Wing Chun: “Mein Sohn hat mir diesen Turbo mitgegeben. Seit er da ist, habe ich noch mehr Energie und Willenskraft, das voranzutreiben.” Die nächste Reise zum Großmeister, um womöglich den Stil zu perfektionieren, hat Hargesheimer noch nicht geplant. Er sieht aber immer noch Steigerungspotenzial. Einstweilen lehrt er seine Schüler das Wissen des Onkels.